LehrerInnen können mit dem Unterrichtsstoff nie alle SchülerInnen erreichen – manche Kinder sind zum Beispiel gerade durch Lärm abgelenkt, andere durch Probleme inner- oder außerhalb der Schule belastet. „Die sensible Phase zwischen sechs und zehn Jahren ist jedoch entscheidend für den weiteren Bildungsweg“, bestätigt Barbara Gasteiger-Klicpera vom Institut für Pädagogische Professionalisierung der Universität Graz. Sie hat gemeinsam mit ihren Kolleginnen Edvina Bešić und Lisa Paleczek sowie den Grazer Volksschulen VS Schönau und VS Viktor Kaplan in einem internationalen Forschungsprojekt ein Unterrichtskonzept getestet, das die Lehr- und Lernqualität in der Primarstufe verbessern soll.
Triostunden als Schlüssel zu den SchülerInnen
Aus der Erkenntnis, dass alle SchülerInnen unter bestimmten Umständen zu „schwer erreichbaren“ Kindern werden, leitet sich der Name des Projekts „Reaching the Hard to Reach“ ab. Wie das dennoch gelingen kann? Durch eine so genannte „Triostunde“, sind die Forscherinnen überzeugt. Diese funktioniert so: Ein LehrerInnen-Dreier-Team konzipiert gemeinsam eine Unterrichtsstunde. Die SchülerInnen erzählen ihnen direkt danach, was ihnen gefallen hat und was nicht. Das Dreier-Team nimmt das erste Feedback auf und berücksichtigt es bei der Weiterentwicklung der Lehreinheit. Danach wird derselbe Stoff auf überarbeitete Weise in einer anderen Klasse nochmals vermittelt. Dieser Prozess widerholt sich dann noch ein drittes Mal, sodass jeweils ein/e andere/r LehrerIn an die Reihe kommt. „Dadurch erhalten alle drei KollegInnen unterschiedliches Feedback, was einen breiten Nachdenkprozess über die Gestaltung des eigenen Unterrichts ermöglicht“, erklärt Gasteiger-Klicpera.
Ein weiterer positiver Effekt: Die SchülerInnen erleben sich als selbstwirksam, weil ihre Rückmeldungen tatsächlich umgesetzt werden. Auch schärfen sie ihre Selbstwahrnehmung: „Uns ist es ein Anliegen, die Kinder früh einen forscherischen Antrieb mitzugeben. Sie sollen lernen, sich selbst zu beobachten und zu erkennen, was sie beim Lernen stört oder ablenkt“, erklärt Gasteiger-Klicpera. Durch die aktive Einbindung der Kinder profitiert die gesamte Schulkultur, bestätigt auch Angela Kaltenböck-Luef, Direktorin der Volksschule Schönau: „Wir haben dieses Konzept in unserem Schulentwicklungsplan verankert, weil wir gesehen haben, dass diese Herangehensweise allen Personen im Klassenzimmer hilft.“ Auch Rudolf Zdrahal, Direktor der Volksschule Viktor Kaplan, zeigt sich von diesem Konzept – in Fachkreisen Inclusive Inquiry genannt – begeistert: „Es berücksichtigt individuelle Lernvoraussetzungen und ermächtigt SchülerInnen, aktiv am Lernen teilzunehmen und sich kritisch damit auseinander zu setzen. Das wiederum erhöht ihre Bildungschancen maßgeblich.“
Von Dänemark bis Portugal
Das von der EU über die Förderschiene Erasmus+ unterstützte Projekt steht derzeit in seinem dritten, abschließenden Jahr. Beteiligt haben sich daran Universitäten und Primarschulen aus Dänemark, England, Österreich, Portugal und Spanien. „Interessant war, dass das Konzept in den südlichen Partnerländern viel leichter umzusetzen war als in den nördlichen“, fasst Gasteiger-Klicpera zusammen. Die WissenschafterInnen haben gemeinsam mit LehrerInnen Unterrichtsmaterialien entwickelt, die auf dem Inclusive Inquiry-Konzept aufbauen und kostenlos auf Englisch, Deutsch, Spanisch, Dänisch und Portugiesisch zum Download auf der Projekt-Website bereitstehen.
Weitere Informationen: https://reachingthehardtoreach.eu/